Das Leben des Hugos

Ein einsamer, abgebrannter Zigarettenstummel liegt am Boden. Ein Stuhlbein spendet ihm ein wenig Schatten. Ein Flutscheinwerfer taucht den ganzen Raum erbarmungslos in sein grelles Licht.

"Das war's dann," dachte der Zigarettenstummel. Sein Name war Hugo und er war auf den sonnigen Feldern des Marylandes aufgewachsen. "Dies war eigentlich meine glücklichste Zeit," sinnierte er. "Von einer schweren Jugend kann keine Rede sein." Und so verstand er nicht, dass er schon damals immer wieder von einer gewissen Schwermütigkeit befallen wurde, als hätte er schon damals gewusst, er ende an einem verregneten Samstagabend auf dem Holzboden eines verrauchten, lauten Kulturlokals in einer Stadt, irgendwo in der Provinz.

An einem sonnigen Mittwoch ende Juni kam ein riesen Mähdrescher und brachte all die Blätter ein, damals im Maryland. Es war ein Schmerz, wie er ihn noch nie erfahren hatte, als er von seiner Stammpflanze getrennt wurde. Mit all seinen Brüdern und Schwestern trat er nach einer behaglichen Trocknungszeit in einer wunderbare grossen, warmen Halle eine lange Reise an, welche in Schiffen und stinkenden Lastwagen sich eine Ewigkeit dahin zog.

Hugo hatte nie viel Kontakt zu den andren, er sprach wenig, genoss die Zeit, die er geniessen konnte und erduldete die Zeit der Löcher. Einmal aber, es war in einem lauten Lastwagen, wo immer irgendwelche Metalle gegeneinander schlugen, sprach er mit einem kleinen Blatt, gleich neben ihm über die schöne, warme Sonne im Maryland. Beide durchfloss ein Gefühl der Schönheit und Trägheit und sie verfielen beide wieder in Schweigen. Er hatte das kleine Blatt nur noch einmal aus der Ferne beim Verlad auf ein anderes Schiff gesehen.
Als die Reise zu Ende war, wurden sie alle in einen alten Holzschuppen geladen und mussten dort lange in dunkeln, kalten, wenigstens aber trockenen Räumen ihrem Weiters harren. Hugo hatte angst. Das Loch war tief und gross.

Dann aber wurden sie plötzlich ans Licht gezerrt und in eine grosse Halle mit riesigen, tosenden Maschinen gebracht. Dort kamen die rotierenden Messer zum Einsatz. Hugo wurde zerhackt und zerstückelt. Aber wie durch ein Wunder war das was vom ehemaligen Hugo noch übrig blieb von da an immer zusammen. Wie durch ein magisches Band wurden seine Fragmente zusammengehalten.
Nach den rotierenden Messern wurde alles in grosse Jute Säcke abgefüllt. Und wieder kam eine Zeit der Dunkelheit, der Kälte. Hugo konnte nicht sehen wo er war. Er war eingezwängt in einen dunkeln, muffigen Sack, umgeben von Millionen anderer Tabak-Zerstückellungen. Aber Hugo stand durch. Mit dem baren Wissen des Seins, des existierens als Konzept, als Fügung. Und so kam er auch durch dieses tiefe, grosse Loch.

Eine andere grosse, laute, weisse Halle war das nächste, das er sehen konnte. Ungeheuer grosse, blitzende und blankende, chromerne Maschinen füllten den Raum. Als er zum Sack raus geschüttet wurde, blendete ihn das Licht, alles ging drunter und drüber. Eine panische Angst befiehl ihn. Er fühlte wie er auseinander gerissen wurde. Zuerst wurde es unheimlich heiss. So heiss, dass es sogar Hugo, der ja gerne Wärme hatte, ungemütlich wurde. Dann kam ein wüster, orkanartiger Sturm, der alles durcheinander wirbelte und da verlor Hugo das Bewusstsein. Vielleicht war es eher ein Rauschzustand. Farben, Schauer, Unbekanntes durchflossen ihn.

Als er wieder zu sich kam, befand sich Hugo auf einem Fliessband als kleine längliche Portion verteilt. War es die Fügung, die er bereits gespürt hatte, war es Zufall, war es weiss Gott was......... Er war wieder als kompletter Hugo auf diesem nach Gummi stinkenden Band und fuhr mit atemberaubender Geschwindigkeit dahin. Die Lichter an der Decke zogen vorbei wie Sterne, die aus ihrer Bahn geworfen waren. Rundherum herrschte ein Stampfen und Tosen, ein Klirren und Scheppern. Aber alles hatte seinen Rhythmus, alles schien auf etwas höheres heraus zu sein. Alle diese Maschinen schienen für etwas da zu sein, auf etwas hin zu arbeiten. Das Klopfen und Schreien machte Sinn. Hugo fiel mit einem plötzlichen Sturz vom Fliessband auf blütenweisses Papier und sofort ging es weiters, das Papier bekam noch Watte und andere Sachen und wurde in irrem Tempo um Hugo geschlungen, eine Presse presste Hugos letzten Schnauf aus den Lungen und schon wieder lag er neu eingekleidet auf einem anderen Rollband. Auf diesem lagen viele weiters so Eingekleidete und wusch mit zwanzig anderen wurde er in silbriges Technopapier gewickelt und es herrschte wieder Dunkelheit.

Zum dritten Mal war er in totaler Dunkelheit. Er wurde geschüttelt, geworfen, gequetscht. Die Stimmung in dieser zusammengewürfelten Zwanzigergesellschaft war bedrückt, niemand sprach, manche weinten. Und so war eine weiter Zeit angebrochen, von der Hugo nur noch als tiefes, grosses Loch sprach. Hugo meinte dies sei nun sein endgültiges Dasein, das er zu fristen hatte. Eine Weinerlichkeit überkam ihn, wenn er an sein schönes, neues Kleid dachte. Dieses blütenweisse Papier, das endlich all dies, was früher einmal als Ganzes "Hugo" gewesen war, nun wieder zu einem Ganzen zusammengefügt hatte. Am einen Ende konnte er Luft atmen, am Anderen war er auf Watte gebettet.
" Hey, wir alle, Du Papier, Du Watte, wir sind nun alle eins, wir sind nun alle Hugo!" schrie er in einer verzweifelten Minute, als das Loch besonders tief und besonders gross war.
Und es schien ihm, als antworteten Papier und Watte: " Oh, ja, wie schön, auch wir sind jetzt Hugo. Danke, dass Du uns aufgenommen hast!"
Dies erfüllte ihn mit einer Freude und Genugtuung, dass das Loch doch nicht mehr so tief und doch nicht mehr so gross war.

So verstrich die Zeit.

Der Tag kam, als es plötzlich ein anderes Gefühl war in diesem Paket zu sein. Hugo spürte eine Wärme durch all die Einhüllung durch. Es fühlte sich an, als würde er getragen. Es gab dann ein wenig mehr Platz im Paket, aber sobald er es genoss ein wenig mehr Platz zu haben, wurde es wieder enger. Sie schienen irgendwo hinein geschoben worden zu sein. Und so ging es dann weiters: Das ganze Paket schien wieder mehr Luft zu haben, jemand verliess sie und sie wurden wieder zurück geschoben in die Enge.
Hugo sah nach jedem dieser Rituale jeweils ein wenig Licht. Er fühlte sich aber im grossen und ganzen behaglich. Es war warm, richtiggehend mollig, als läge er in einem Schoss.
Und dann war die Reihe an ihm. Er wurde von zwei wunderschönen Fingerspitzen nach einigem Geschüttel aus dem Paket gezogen. Das Licht war hell, ein Flutscheinwerfer blendete ihn. Er wurde wild gestikulierend durch die Luft gewirbelt, wie auf einer Achterbahn. Dann wurde er gemächlich an zwei geschwungene, rote Lippen geführt. Diese hielten ihn mit leichtem Druck in waagerechter Lage.
Das Unfassbare geschah: Eine Flamme heller und heisser als alles was Hugo bis jetzt erlebt hatte kam näher und näher, die Lippen gaben ein wenig mehr Druck, er stieg an und die Flamme berührte ihn, er fing Feuer.
Zutiefst erschrocken spürte Hugo, wie er langsam zu Rauch und Asche wurde. Erstaunt stellte er fest, dass dies nicht weh tat, ja vielleicht doch ein wenig, aber es war eine Wonne. Der Rauch, aus dem Hugo nun ja auch zu einem Teil bestand, strich zuerst durch den Rest des noch festen Hugos hindurch, umspielte ihn, gelang dann aber in die Höhle eines ihm nicht bekannten Wundertums, wurde sogleich einen Schlund hinab gezogen und freudig von Kapillaren empfangen, welche ihn in etwas anderes transferierten, er war dann ein Teil dieses Dorts.

Je weiter dies ging, um so mehr Hugo in Rauch, der den wundersamen Weg ging, und Asche, welche achtlos auf den Boden fiel, überging, desto ekstatischer wurde Hugo. Er fing an zu singen, zu schreien, zu weinen und zu lachen gleichzeitig, er machte Purzelbäume, rannte hin und zurück und konnte sein Glück gar nicht fassen. Er verfiel in ein trance-artiges Mmmh und Aaah, als er plötzlich in einem jähen Sturzflug auf den Boden geworfen wurde und brutal von einem Fuss zermalmt wurde.


So lag er nun da. Im Schatten eines Stuhlbeines, welches ihn vor dem grellen Licht eines Flutscheinwerfers schützte und war trotz all seiner Zerdrücktheit nicht unglücklich. Er hatte das Absolute erlebt, er hatte das Gefühl kennengelernt der Bestimmung zugeführt zu werden. Da lag er nun. Irgendwann wurde der Flutscheinwerfer ausgelöscht und als der Tag anbrach wurde Hugo von einem schwarzen, staubigen Besen weggewischt. Da verliess Hugo endgültig die Welt des Festen.

1. Juni 1996